ARH/ERHFA Video Essay Nr. 1

ARH/ERHFA Video Essay Nr. 1 (Zusammenfassung, Skript and Quellennachweis, PDF)

Titel Arbeitende Tiere
Untertitel Akteure der Modernisierung sichtbar machen
Autoren Peter Moser, Andreas Wigger
Veröffentlichung 2022

Zusammenfassung

Arbeitstiere werden oft als Phänomen einer vorindustriellen Zeit wahrgenommen. Die Geschichtsschreibung geht in der Regel davon aus, dass sie im Zuge der Industrialisierung obsolet geworden seien. Doch ein genauer Blick auf die Entwicklung der städtischen Verkehrssysteme und die Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion zeigt, dass Arbeitstiere bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten. Arbeitende Tiere waren Akteure der Modernisierung und nicht Phänomene einer vorindustriellen Zeit. Dieser Videoessay gibt zunächst einen Überblick über die Bedeutung der Arbeitstiere. Danach folgt eine Darstellung der Vielfalt von Arbeit leistenden Tieren. Ein wichtiger Aspekt, der aus dem Videoessay deutlich wird, ist die enge Interaktion von Männern, Frauen und Kindern mit ihren tierlichen Arbeitskollegen. Obwohl Menschen entschieden, wann Tiere zu arbeiten hatten, wurden die Arbeiten selbst immer in Kooperation zwischen Menschen und Tieren durchgeführt. Mit anderen Worten: Arbeit produzierte nicht nur Produkte, sondern auch Bindungen. Arbeit ist also zutiefst ambivalent: Sie kann ein Mittel zur Entfremdung sein, aber auch eine Chance zur Ermächtigung.

Skript

Einleitung

Arbeitstiere – oftmals werden sie als Phänomen einer vorindustriellen Zeit wahrgenommen. Die Geschichtsschreibung geht in der Regel davon aus, dass Arbeitstiere im Zuge der Industrialisierung und der Modernisierung der Landwirtschaft obsolet geworden seien. Ein genauer Blick auf die Entwicklung der städtischen Verkehrssysteme und die Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion im 19. und 20. Jahrhundert zeigt jedoch, dass Arbeitstiere bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten. Mit anderen Worten: Arbeitende Tiere waren Akteure der Modernisierung und nicht Phänomene einer vorindustriellen Zeit.

Inhalt

Dieser Videoessay gibt zunächst einen Überblick über die Bedeutung der Arbeitstiere. Danach folgt eine Darstellung der Vielfalt von Arbeit leistenden Tieren. Anschließend werden drei konkrete Formen von Mensch-Tier-Interaktionen bei der Arbeit in den Fokus gerückt. Die verwendeten Filmausschnitte stammen aus dem Online-Portal der European Rural History Film Association.

Bedeutung

Tiere wurden in der amtlichen Statistik nur selten als Arbeitstiere aufgeführt. Trotzdem waren sie zahlenmässig relevant. Ihre Bedeutung kann mit Hilfe anderer Quellen rekonstruiert werden. Die Anzahl der zur Arbeit eingesetzten Kühe beispielsweise lässt sich aus wissenschaftlichen Untersuchungen errechnen, die in den 1930er und 40er Jahren zur Eruierung der Arbeitsfähigkeit von Kühen durchgeführt wurden. Die Nutzung lebender Ressourcen ist vom Wetter, der Topografie und der Struktur der Böden abhängig. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis aus den starken, aber schwerfälligen und für die Böden schädlichen Dampfmaschinen des 19. Jahrhunderts leichte, wendige, motorengetriebene Maschinen entwickelt werden konnten. In der Schweiz wurden die landwirtschaftlichen Zugtiere deshalb erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den Traktoren verdrängt.

Hunde

Hunde wurden nicht nur zu Bewachung von Häusern und für den Herdenschutz eingesetzt. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts spielten sie auch im Transportwesen eine bedeutsame Rolle. Besonders wichtig waren Hunde für den Transport der Milch von den Höfen in die Käsereien. In vielen Städten waren Hunde unverzichtbare Helfer der Milchmänner, die die Milch an die Haustüre ihrer Kundschaft lieferten.

Kühe

Tiere sind multifunktionale Lebewesen. Kühe zum Beispiel produzieren nicht nur Fleisch und Milch. In vielen europäischen Regionen wurden sie auf kleinen und mittleren Bauernbetrieben auch zur Zugarbeit eingesetzt. Um ihre Milchleistungen nicht zu gefährden, waren die Kühe jedoch selten mehr als ein paar Stunden pro Tag eingespannt. Auch vor und nach dem Gebären von Kälbern wurden sie eine Zeitlang nicht zur Zugarbeit eingesetzt.

Stiere

Stiere waren schwierig zu halten. Oft wurden sie gefährlich für diejenigen, die sie fütterten und pflegten. Stiere, die man zur Arbeit einsetzte, galten in der Regel als umgänglicher. Arbeitende Stiere konnten deshalb auch länger zur Zucht gehalten werden als jene, die den grössten Teil ihres Lebens untätig im Stall verbrachten.

Esel

Esel wurden vor allem zum Tragen von Lasten eingesetzt. Sie galten als genügsam, ausdauernd – und zuweilen genauso eigensinnig wie die Menschen, mit denen zusammen sie arbeiteten.

Pferde

Pferde waren nicht nur die stärksten und schnellsten Arbeitstiere, sie waren auch die prestigeträchtigsten. Die auf grösseren Höfen für die Pferde zuständigen Karrer und Rosser wurden deshalb besser entlöhnt als gewöhnliche Dienstboten. In der ländlichen Gesellschaft genossen sie zuweilen auch ein höheres Ansehen als Kleinbauern, die ausschliesslich mit Kühen fuhrwerkten. Bis ans Ende des 19. Jahrhunderts basierten auch die städtischen Transportsysteme auf der Zugkraft von Pferden. Städte verfügten daher oft über eine viel höhere Pferdedichte als ländliche Gebiete. Weil die Städte das Futter für ihre Pferde nicht selbst produzieren konnten, prägte ihr Pferdehunger auch ihr ländliches Umfeld. Hier wurden nicht nur die Futtermittel für die Pferde angebaut, sondern auch die Pferde selbst reproduziert. An den Rändern der Städte angesiedelte Bauernbetriebe übernahmen die Erziehung zur Arbeit und die Gewöhnung der jungen Pferde an die städtischen Lärmpegel.

Praktische Ausbildung

Auch Tiere werden nicht einfach zum Arbeiten geboren. Sie müssen das Arbeiten, wie die Menschen auch, erst lernen. Dazu wurden viele Techniken praktiziert, die über Kulturen und Zeiträume hinweg stark variierten. Fohlen zum Beispiel liess man in ihrem ersten Lebensjahr meist frei neben ihren arbeitenden Müttern laufen. Dann wurden sie lose an ein ziehendes Pferd angebunden, um sie an das Arbeitstempo und die Disziplin zu gewöhnen. Erst wenn Pferde drei oder vier Jahre alt waren, wurde von ihnen erwartet, dass sie gemeinsam mit älteren Gefährten zogen.

Essen und Erholung

Menschen und Tiere ermüden, wenn sie arbeiten. Sie können, anders als motorengetriebene Maschinen, nicht kontinuierlich, ohne Unterbrüche arbeiten. Wie alle Lebewesen müssen sie auch regelmässig essen und trinken. Wenn Tiere und Menschen zusammen arbeiteten, so assen und tranken sie in der Regel auch gemeinsam.

Kinder

Kinder, Männer und Frauen gehörten ebenso wie Arbeitstiere zur bäuerlichen Wirtschaft. Dabei war die Last der Arbeit für Kinder oft zu schwer. Allerdings zeigen Filmquellen, dass Kindern die Arbeit mit Tieren auch Freude bereitete und ihnen zu wertvollen Erfahrungen verhalf. Ein wichtiger Aspekt, der aus den Filmausschnitten deutlich wird, ist die enge Interaktion von Männern, Frauen und Kindern mit ihren tierlichen Arbeitskollegen. Obwohl Menschen entschieden, wann Tiere zu arbeiten hatten, wurden die Arbeiten selbst immer in Kooperation zwischen Menschen und Tieren durchgeführt. Die französische Soziologin Jocelyne Porcher weist denn auch zurecht darauf hin, dass Arbeit nicht nur Produkte produziert, sondern auch Bindungen. Arbeit ist also zutiefst ambivalent: Sie kann ein Mittel zur Entfremdung sein, aber auch eine Chance zur Ermächtigung.

Quellenangaben und Dank

Filmographie

Dieser Videoessay basiert auf Filmmaterial, das via die folgenden Institutionen konsultierbar ist. Die Links führen zu Metadaten.

European Rural History Film Association (ERHFA), Online Portal

Österreichisches Filmmuseum, Wien

Memoriav Bern, Memobase

Bilder

Die in diesem Videoessay benutzten Bilder sind in der folgenden Institution konsultierbar.

Archiv für Agrargeschichte, Arbeitstiere Online – Bildquellen zur Tierarbeit

Dank

Ton: Peter von Siebenthal, Projektstudio Kehrsatz; Sprecher: Yves Raeber

Weiterführende Literatur

Bibliographie

  • Auderset Juri, Moser Peter, Schiedt Hans-Ulrich, Arbeitende Hunde – die Arbeit der Hunde. Eine historische Spurensuche, Schlussbericht zum AHS Projekt Nr. 150, Bern 2021.
  • Auderset Juri, Schiedt Hans-Ulrich, Arbeitstiere. Aspekte animalischer Traktion in der Moderne, in: Traverse 2021/2, S. 27-42.
  • Moser Peter, Grenzen der Komplexitätsreduktion. Überlegungen zu den Versuchen, multifunktionale Tiere in monofunktionale Projektionsflächen zu transformieren, in: Traverse 2021/3, S. 139-154.
  • Moser Peter, Von „Umformungsprozessoren“ und „Überpferden“. Zur Konzeptualisierung von Arbeitstieren, Maschinen und Motoren in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft 1850-1960, in: Nieradzik Lukasz, Schmidt-Lauber Brigitta (Hg.), Tiere nutzen (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes, Band 13), Wien/Innsbruck 2016, S. 116-133.
  • Moser Peter, Über die Erziehung der Kühe und Zuchtstiere zur Arbeit, in: Wege und Geschichte 2015/1, S. 15-19.
  • Porcher Jocelyne, Mulier Chloé, Jourdan Félix, Deneux Vanina, L’animal de rente. Quelle rente? in: Traverse 2021/2, S. 164-178.
  • Porcher Jocelyne, Estebanez Jean (eds.), Animal Labor. A New Perspective on Human-Animal Relations, Bielefeld 2019.